Es ist in (fast) jeder Fotoausrüstung präsent und wird allgemein als DAS Objektiv genannt, mit der ein angehender Fotoamateur seine Entdeckungsreise im Land der eingefangenen Photonen beginnen sollte – das 50mm Objektiv. Geringe bis gar keine Verzeichnungen und eine, durch die einfache Konstruktion bedingte, hohe Lichtstärke, sowie ein geringer Preis für Einsteigermodelle machen das Glas für den Anfänger interessant. Hinzu kommt, dass der Abbildungsmaßstab für Vorder- und Hintergrund dem der natürlichen Wahrnehmung am ähnlichsten ist. Es spricht also alles dafür, diese Brennweite immer und überall dabei zu haben. Warum es trotzdem fast nie in der Fototasche zu finden ist, sollte an dieser Stelle einmal näher betrachtet werden. Ein kurzer Rückblick in die Fotowelt vergangener Tage hilft dabei.

Früher war alles anders

Wenn man noch das Fotografieren zur Zeit des chemischen Films und mit maximal ASA800 begonnen hat, erinnert man sich vielleicht noch daran, als man die erste, vor allem preiswerte, SLR gegen eine mühsam zusammengesparte Canon AE1 ausgetauscht und mit einem nativen 50mm versehen hat. 1.8er Lichtstärke und spätestens bei 2.8 eine Schärfe bis zur äußersten Ecke waren die Belohnung für Einschränkungen aller Art im Leben eines Jugendlichen. Mit 50mm lernt man fotografieren war die Aussage, die jeder Fotograf herunter betete, weil es dem menschlichen Sehen nahe kommt. Erst viel später wurde klar, dass damit nicht der Blickwinkel, sondern der Abbildungsmaßstab gemeint ist. Tatsächlich hatte es aber zu Folge, dass ich per „Turnschuhzoom“ gelernt habe, die beste Perspektive bzw. eine bessere Bildkomposition zu finden.

Digitale Revolution in der Fotografie

Als die digitale Fotografie ihren unaufhaltsamen Aufstieg begann, waren die Bildsensoren zwar brauchbar, aber die Technik noch nicht so gut, dass man ein Foto in gleicher Qualität wie vom chemischen Film auf 60*40 vergrößern konnte. Das Bildrauschen war bei ISO 800 schon extrem, sodass auch an den ersten digitalen Profi-DSLR’s ein lichtstarkes Objektiv die erste Wahl war, vorzugsweise ein 50mm. Zwar hatte man genug Licht, um die ISO auf unter 400 zu drücken, aber irgendwas stimmte mit dem Abbildungsmaßstab nicht. Konnte auch nicht, denn die ersten DSLR’s aus dem Premiumsegment besaßen alle einen APSC-Sensor und der daraus resultierende crop-Faktor verlängerte die Brennweite und damit den Abbildungsmaßstab auf 75-80mm. Im Bildergebnis bedeutet das – der Hintergrund wurde höher komprimiert und entsprach nicht mehr der natürlichen Wahrnehmung. Für den Bereich fotografische Dokumentation ein NoGo. In dieser Zeit wurden die 50mm nach und nach gegen hochwertige 35mm-Objektive ausgetauscht und damit war man wieder aus dokumentarischer Sicht fotografisch auf der richtigen Linie.

Das alte Contax-Zeiss Planar konnte bei dieser Aufnahmesituation seine Qualitäten unter Beweis stellen. Im Gegensatz zum Zoom hat die Aufnahme eine höhere Dynamik und auf der 200%-Vergrößerung ist eine bessere Schärfe zu erkennen

Als nach einigen Jahren die ersten DSLR’s mit KB-Sensor den Markt eroberten, wurde das „Old-Prime“ wegen seiner Eigenschaften wiederentdeckt. Zu diesem Zeitpunkt gab es fast ausschließlich Objektive, die für den chemischen Film entworfen wurden. Der Lichteinfall auf das Negativ konnte bis zu 30 Grad gegenüber der Oberfläche eintreten, ohne dass die Schärfe an den Bildrändern extrem nachließ. Da es beim digitalen Sensor aber darauf ankommt, dass das Licht bis zum äußersten Rand des Sensors in einem Winkel von 90 Grad eintritt, waren die  vorher am APSC-Sensor benutzten Weitwinkel und Ultraweitwinkel mit KB-Sensoren kaum mehr zu gebrauchen. Beim 50mm und im Tele-Bereich ist die Rücklinse der alten Objektive meistens so gestaltet, dass sie das Licht in dem für den Sensor benötigten Winkel liefert. Hier wird auch der Unterschied zwischen preiswerten und hochwertigen 50mm Objektiven erkennbar. Je lichtstärker ein altes, auf Film gerechnetes, Objektiv ist, desto größer (und planer) ist die Rücklinse konstruiert.

Neue Rechnungen und neue Kameras

Als in der zweiten Dekade dieses Jahrtausends die ersten, ausschließlich für den Sensor,entwickelten, Objektive auf den Markt kamen, waren natürlich auch 50mm-Gläser dabei. Diese brachten aber, zumindest für die Aufnahmequalität keinerlei Vorteile. Entweder billig hergestellt, oder maßlos überteuert, erzeugten sie kaum Mehrwert, wenn man von der neueren Beschichtung der Glaselemente und den damit verbundenen minimalen Verbesserungen im Bereich Lensflares absieht. Ein 45 Jahre altes Zeiss Planar kann mit einem aktuellen Zeiss in Sachen Bildqualität mithalten und ist wesentlich besser, als aktuelle 50er aus der Serie „Joghurt-Becher“.

Bildstabilisator und ISO

In den letzten 10 Jahren sind hochwertige Zoom-Objektive im mittleren Brennweitenbereich von 24-70mm so gut geworden, dass man in 99 Prozent der Fälle mit so einem Immer-Drauf-Objektiv auch bei 50mm-Brennweite eine zum 50mm Prime äquivalente Aufnahme erhält. Die Bildqualität ist hoch und die aktuellen Beschichtungen der Linsen haben die Nachteile von Zoom-Objektiven fast komplett negiert. Zwar ist die Lichtstärke geringer, aber den Kamera- bzw. Sensorherstellern ist es gelungen, diesen Nachteil auszugleichen. Bildstabilisatoren in Objektiven und Kameras sowie nutzbare ISO-Werte über 12800 erlauben Aufnahmen, die selbst mit einem 50er Prime mit Lichtstärke 1:1.2 in früheren Zeiten nicht möglich gewesen wären. Zusammengefasst darf man sagen, dass heutzutage ein aktuelles Zoom mit mittlerer Brennweite neben der Bildqualität eines preiswerten 50mm Prime auch noch durch die variablen Brennweiten eine wesentlich höheren Nutzen bietet und die Festbrennweite nur noch für spezielle Effekte genutzt wird.

Bokeh

Verfolgt man die Diskussionen zu immer lichtstärkeren Objektiven, wird ein Argument zum heiligen Gral der Fotografie – das Bokeh. Dieser Effekt, den Vordergrund scharf und den Hintergrund unscharf zu stellen, ist bereits bei 50mm ausreichend vorhanden. Und weil diese Brennweite auch gerne als Portrait-Objektiv benutzt wird, konzentrieren sich die Diskussionsteilnehmer, statt auf die Vor- und Nachteile eines immer kleiner werdenden Schärfeebene einzugehen, auf das beste Bokeh. Zwar beherrschen lichtstarke (und exorbitant teure) Zooms mittlerweile auch das Thema Bokeh, aber an die Hintergrund-Unschärfe einer guten Festbrennweite kommen sie nur annähernd heran. In diesem einen Fall, der Portrait-Fotografie, mag das 50mm seine Vorteile gegenüber dem „Immerdrauf“ ausspielen, aber das ist auch das einzige Einsatzgebiet.

Fazit

Hat man ein solches Prime-Glas dabei, spricht nichts dagegen, es einmal gegen das Zoom „antreten“ zu lassen und es im Bildvergleich zum Zoom zu testen. Das habe ich im Herbst mit meinem Contax-Zeiss 1,4 getan und war überrascht, mit welcher Farbgewalt das Ergebnis aus meinem RAW-Konverter kam. Das „Kontrollfoto“ aus dem 28-70 Zoom hatte zwar eine ähnlich gute Schärfe, aber wesentlich weniger Dynamik. In diesem Fall hat sich die Mitnahme des Alt-Glas gelohnt. Ob es immer seinen Platz im Kamerarucksack behalten wird, ist eher unwahrscheinlich, denn wenn ich mich entscheiden müsste, das Zeiss oder ein 14mm Ultraweitwinkel mitzuschleppen, wäre die Wahl definitiv das UWW.

Wenn es dabei ist, so habe ich mir vorgenommen, wird es jetzt öfters die Chance bekommen, mit Qualität zu glänzen. Und vielleicht brauche ich einmal in meinem Fotoleben die notwendige Freistellung, um das bei Fotografen inflationär genutzte Bokeh zu bekommen.

Artikel und Foto von Jürgen Olejok / 2022